Ungegenständliche Zeichnungen

„den kleinen meisen, wie sie f l i e g e n von ast zu ast, bei null grad, dem sollen alle meine arbeiten e n t s p r e c h e n .

Raimer Jochims, 1.1.2017

 
Die neuen linearen Zeichnungen knüpfen an die Tuschpinselzeichnungen aus den Jahren 1960 bis ´65 an. Die Tuschen bestanden aus vier ähnlichen Pinselzügen, die mit den vier Ecken des Papierbogens korrespondierten. Die neuen Zeichnungen sind geometrisch strenger und entsprechen in der semantisch mehrdeutigen Realisation der Fläche als offener Form den chromatischen und schwarzen Bildern. Die Idee mit der an- und abschwellenden Linie entstand im Jahre 65, mitangeregt durch Zeichnungen von Raimund Girke. Damals machte Jochims einige Versuche, kam aber erst im Sommer 69 wieder darauf zurück und entwickelte die Grundregeln der Syntax und durchdachte ihren konzeptionellen Zusammenhang.

R.J.: „[…] Zunächst zeichnete ich mit Blei auf weißem Papier und später übertrug ich das Thema auf Platten mit weißen Linien auf dunkelgrauem Grund. In der Ausstellung werden 5 Zeichnungen auf Papier und die 15 Zeichnungen auf Platten gezeigt. Bedeutungsmäßig macht es einen großen Unterschied, ob die Linie als Lichtspur auf dunklem Grund oder als Dunkelspur auf hellem Grund erscheint, aber prinzipiell scheinen beide Möglichkeiten gleichberechtigt zu sein.
[…] Um die Identität der Fläche nicht zu verletzen, dürfen die Linien sich nicht kreuzen. Der Schnittpunkt wird ausgespart.

[…] Die formale Syntax ist einfach und durchsichtig. Sie ergibt sich aus der Umsetzung der Gesetze der chromatischen Malerei – eine Malerei der Linie. Problem ist hier wie dort die dynamische Identität des Bildes als Fläche, durch deren Wahrnehmung die Identität eines freien visuellen Bewusstseins und seiner Gegenstände eingeübt wird. Die Identität wird vorgestellt als offene, semantisch vieldeutig-produktive Bewegungsform, deren konkreten Sinn der Rezipient mitbestimmt. Wer zur persönlichen Aktualisierung des Bildgehaltes nicht bereit oder fähig ist, wird nur Linien auf gegenfarbigem Grund bemerken, wer aber den durch die Zeichnungen initiierten Prozess visueller Erkenntnis aufnimmt, erfährt eine allmähliche strukturelle Veränderung seines anschaulichen Bewusstseins und seiner Objektwelt. Das Ziel dieses Erkenntnisprozesses ist – ganz allgemein gesprochen – personal und sozial die Mehrung der Freiheit des Sehens.

Raimer Jochims, München Januar–Februar 1970