Arbeitsnotizen

Hier werden Raimer Jochims‘ Arbeitsnotizen vieler Jahre gezeigt.
Aktuell sind die Notizen von 2022 chronologisch aufsteigend erfasst.

2022

Die kleine Taube fliegt in unsere Kastanie in die Höhe von Zweig zu Zweig, hält sich daran fest, putzt ihr Gefieder und friert nicht
13.1.22

Die Leute sprechen von ‚erledigen‘. Ich will nichts ‚erledigen‘. Das Steine-Klopfen kann ich nicht ‚erledigen‘. Gebete kann ich nicht erledigen. Sehen kann ich nicht erledigen …
19.1.22

Von Maria Lassnig ist eine große Ausstellung im Kunstmuseum Bonn zu sehen. Wenn ich an ihre Bilder denke, friere ich, aber dann wird mir warm …
22.1.22

Ich lese im Shobogenzo von Dogen Zenji und verstehe nichts, und werde durch das Lesen geprägt
31.1.22

Kastanienzweige schweben und weben und schwanken im Wind
1.2.22

In meiner Arbeit spielen die Flüchtigkeit des Zufalls und die bohrende Genauigkeit zusammen.
8.2.22

Ich lese in ‚Faust‘ von Goethe und im ‚Ur-Faust‘ – in Hochstadt bei Frankfurt, und ich bin sprachlos über das Leiden, das Nicht-Gelingen des Lebens (Gretchen!), das Goethe in Frankfurt beschrieb …
8.2.22

Die kahle Kastanie schwankt im Sturm und wirft die vertrockneten Zweige ab
9.2.22

Draußen stürmt der Wind. Ich liebe das Geräusch. Da kommen meine Farbverläufe her, auch …
10.2.22

Goethe hielt sich für den Größten. Beckmann auch. Mondrian nicht
17.2.22

Ich kriege haufenweise Bettelbriefe mit Fotos von leidenden Kindern und Erwachsenen. Die Fotos sagen nichts über die reale Situation, sie beweisen nichts in Bezug auf Not und Leiden, aber sie zeigen viel von denen, die mit den Fotos Geld erwerben wollen
17.2.22

Panipsismus wird in der keltischen Dichtung beschworen: Ich bin in allen Erscheinungen der Welt, ich bin alles, was sich zeigt und was ich sehe. –
Auch ich bin das alles
27.2.22

‚Panipismus‘ nennt Birkhan den allseitigen Ich-Bezug des Lebens: alles bin ich, das erlebte der Dichter Philosoph, und das erfahre auch ich
25.3.22

Zur Zeit gibt es keine frischen Tomaten aber sogenannte Datteltomaten aus Holland, und die tragen die Aufschrift ‚Naturlieblinge‘; das finde ich so kitschig, dass ich erwäge, sie nicht mehr zu kaufen.
27.3.22

Farbe und Form passen zueinander wie Hemd und Hose zum Leib
1.4.22

Kräftiger Wind weht, die Kastanienzweige schwanken – und genießen
6.4.22

Glyzinienblüten violett vor brauner Hauswand, hell-dunkel-gleich
22.4.22

Wie die Vögel fliegen? Flügel und Füßchen wissen es genau
10.5.22

Sonntag morgen bei warmen, noch nicht heißen Sonnenlicht. Der Blick in den Hof: Oase der Stille und des Friedens, während in der Ukraine der Krieg tobt. Nicht weit von hier
22.5.22

Zur Rehabilitation in Bad Kissingen nach zwei Schlaganfällen.
Gleichzeitig Regen und voller Sonnenschein, während Vögel zwitschern
29.5.22

Jeden Abend geht in Bad Kissingen die Sonne im Westen unter und bildet mit den Wolken am Himmel erstaunliche Bilder. Meine Bilder
1.6.22

Langsamste Verwandlung
1.6.22

In der Klinik in Bad Kissingen höre ich freudloses Lachen, unfroh, aber nicht trauig
1.6.22

Autobahn, das klingt so dürftig wie Flugzeug. Aber das sind mächtige Phänomene unserer Zeit, und die Sprache sagt mir was sie taugen
6.6.22

Fernsehen heißt nicht mit den eigenen Augen sehen
6.6.22

Die allermeisten Menschen interessieren sich nicht für das was mich interessiert, manchmal brennend interessiert: Farbe und Form von Himmel und Erde, von Feldern, Flüssen, Wäldern, von Männern und Frauen und Kindern etc.
Tiere kriege ich kaum zu sehen, Zoos hasse ich wie Autos oder Flugzeuge; und beides benutze ich, aber ungern und widerstrebend
6.6.22

Ich kann so sehen, wie ‚man‘ sieht, und ich kann sehen, dass alles quillt und fließt
8.6.22

Sonntag, den 12.6., ca. 3 Stunden im Wald bei Bad Kissingen gelaufen mit Sonnenschein und warmem Wind. Das Laub der Buchen flattert mit einem still freundlichen Geräusch und wohltuend
12.6.22

Wenn Jesus sagt, er werde wiederkommen mit den Wolken des Himmels, dann meint er das nicht gegenständlich, sondern: Überraschungsreich und unverfügbar. An keine Konfession gebunden, aber die Heiligen aller Konfessionen verkörpern und l e b e n es.
Nicht die Heiligenverehrung macht Heilige, auch nicht die Sicht des Volkes, wie in der orthodoxen Kirche, sie kommen wie Christus auf den Wolken des Himmels: leise und unerwartet
Pfingstsonntag, 19.6.22

Dass Tiere auf vier Beinen laufen können, wundert mich nicht, aber dass wir Menschen auf zwei Beinen laufen – baff!
Der ganze Organismus geht ineinander über und alles wirkt zusammen, das gilt bei Menschen, Tieren, Pflanzen; und alles hat seine Zeit und geht einmal zugrunde; aber der Typus bleibt
20.6.22

Die Wolken am Himmel wandeln sich unaufhörlich, unbemerkt und ohne Schmerzen; ohne menschliches Wollen und Zutun. Gut so!
21.6.22

Lachen über den eigenen Scherz – freudloses Lachen
28.6.22

In Bad Kissingen am Rande der Rhön zwitschern um 10.00 Uhr abends unter rotem Himmel zahlreiche Vögel durcheinander, bis sie mit der Dunkelheit verstummen
28.6.22

Wenn ich laufe oder fahre oder fliege, immer ist der Himmel da, ob ich ihn sehe oder nicht. Ganz selten ist er langweilig. Er ist nicht ‚das Wetter‘, oder das ‚Klima‘, und schließt das Dasein bei Tag und bei Nacht.
28.6.22